Menschen in veränderten Bewusstseinszuständen und Koma

JEDER MENSCH IST ANSPRECHBAR

 

Kommunikation - Lebensprozessförderung - Therapie -

spirituelle Begleitung

Spiritualität und Koma

Vortrag

SPIRITUALITÄT UND IHRE BEDEUTUNG FÜR MENSCHEN IM KOMA

bei einem offenen Kolloquium um Thema "Zugänge zu Menschen in veränderten Bewusstseinszuständen und Koma auf der Intensivstation"
im Klinikum der Universität München
November 2004

Lassen Sie mich - bevor ich Ihnen meine Gedanken zum Thema Spiritualität und Menschen in veränderten Bewusstseinszuständen beziehungsweise Koma auf der Intensivstation vortrage - einige Beispiele aus meiner Arbeit als Seelsorger im Klinikum erzählen:

Ich wurde am späten Abend vom Stationsarzt einer inneren Intensivstation angerufen: Eine Patientin mit einer schweren Lungenerkrankung läge im Sterben und die Angehörigen wünschten seelsorgerliche Begleitung. Ich sollte mich beeilen, denn die Frau würde wohl die nächste Stunde nicht überleben. Ich kam also und gestaltete mit dem Ehemann der Patientin sowie deren Söhnen eine Abschiedsfeier während der die Patientin keinerlei Reaktion zeigte.
Am nächsten Tag nahm mich der Stationsarzt zur Seite und fragte mich, was ich denn mit der Patientin gemacht habe. Sie sei nämlich jetzt stabil und auf dem Weg der Besserung. Erst vor drei Wochen war die Patientin mit ihrer Familie bei mir im Gottesdienst. Es geht ihr wieder gut und sie kann mit ihrer Erkrankung jetzt gut leben.

Ein zweites Beispiel: Ich wurde von der Ehefrau eines ca. 80 Jahre alten Patienten zur letzten Ölung oder Krankensalbung gerufen. Sie begrüßte mich mit den Worten, dass ihr Mann schon seit einigen Tagen nicht mehr adäquat reagiere und wenn er eine Reaktion zeige, dann rede er wirres Zeug. Nach der Feier blieb ich noch und plötzlich machte der Patient die Augen auf und sagte: "Ich muss zur Apotheke". Sofort ergriff seine Frau die Initiative und versuchte einen Dialog zu beginnen. Sie sagte zu ihm, dass er wohl die Apotheke bei ihnen um die Ecke meine, in die sie immer gegangen wären. Der Patient jedoch schaute nur vor sich hin und reagierte nicht. Nach einer Zeit der vergeblichen Versuche seitens der Ehefrau den Kontakt wieder herzustellen sagte ich zum Patienten: "Gell, die Apotheke, die sie meinen, ist ganz woanders." Er blickte mich intensiv an und sagte: "Ja!" "Die kennen wir nicht und können auch nicht dahin", setzte ich nach. Wieder schaute er mich lange und durchdringend an und antwortete: "Ja". Ich sagte: "Was wollen Sie denn in der Apotheke?" Die Antwort kam prompt: "Die Salbe!" Nach einer Zeit der Stille sagte ich: "Aber, die haben Sie doch gerade (von mir) bekommen". Nach einer Zeit desselben Blickes wie vorher, sagte der Mann: "Da haben Sie recht!" Kurze Zeit darauf verstarb er.

Ein halbes Jahr lang begleitete ich einen jungen Patienten, der auf der Intensivstation mit einem extrakorporalen Kunstherzen auf eine Herztransplantation wartete. Er war größtenteils wach und - wie man sagt - voll ansprechbar. Als dann ein Herz gefunden war und die Transplantation gut verlaufen war, wachte der Patient jedoch nicht mehr auf. Zuerst vermutete man als Ursache eine Hirnblutung, aber was erstaunlich war: Der junge Mann nahm trotz künstlicher Ernährung immer weiter ab. Als er nur noch Haut und Knochen war und es sich nur noch um wenige Tage handeln bis zum Tod durch Verhungern handeln konnte, wurde mir in der regelmäßigen Arbeit mit ihm plötzlich klar, dass seine Zeit noch nicht gekommen ist, sondern sein Abmagern den Versuch darstellte, diesem Leben zu entfliehen. Als ich ihn davor warnte und ihn deutlich sagte, dass das ein Vergehen gegen das Leben bedeute, reagierte er sehr heftig mit Augenbewegungen und Unruhe. Der Blutdruck stieg rapide an. Ich riet ihm auf dem Hintergrund meiner Erfahrungen im Umgang mit den Erlebniswelten komatöser Menschen auf das zu hören, was ihm in seiner Welt gesagt werde, denn ich hätte den festen Eindruck, das Himmelstor sei noch nicht offen für ihn. Das klingt für Sie vielleicht zunächst befremdlich und es wäre sicherlich ein eigenes Kolloquium wert, darüber zu sprechen, wie und warum ich von dem, was ich sagte und tat in diesem Augenblick so fest überzeugt war; Tatsache ist jedoch, dass der junge Mann von diesem Augenblick anfing wieder zuzunehmen und wach zu werden. Er ist heute - ein halbes Jahr nach dieser Begebenheit - in der Rehabilitation, kann wieder sprechen und lernt, mit diversen Behinderungen, die in der Zeit am Kunstherzen entstanden sind, zu leben.

Zuletzt möchte ich noch auf die vielen Fälle hinweisen, die ich und meine Kolleginnen und Kollegen in der Seelsorge hier im Hause erleben: Menschen, die tage- oder sogar wochenlang mit dem Tod ringen, jedoch nicht sterben, sondern an der untersten Grenze der Organ- und Kreislauffunktionen bleiben und die - nachdem wir mit ihnen und ihren Angehörigen - einen Abschiedsritus gefeiert und den Segen gegeben haben, sofort sterben.

Diese Beispiele sollen verdeutlichen, dass bei unserer Arbeit auf der Intensivstation Dinge geschehen und erlebt werden können, die den Rahmen des Alltäglichen und des medizinisch-naturwissenschaftlich Erklärbaren bei Weitem sprengen.
Es ist heute unbestreitbar, dass Menschen in extremen und vital-existentiellen Situationen Erfahrungen machen, für die das Wort "spirituell" am angebrachtesten erscheint.
Die Thanatologie, die sich der Erforschung von Erlebnissen der Menschen widmet, die dem Tode nahe waren, hat heute auch empirisch validierte Ergebnisse vorzulegen, die Erstaunliches zu Tage fördern. Diese Forschungen, die Sie wahrscheinlich mit den Namen Moody und Kübler-Ross in Verbindung setzen, sind in Deutschland zuletzt in einer repräsentativen Studie des Lehrstuhls für Soziologie der Universität Konstanz durch Prof. Koblauch 1999 für unseren Kulturraum fortgeführt worden. Die gesammelten Erlebnisse von 2000 Menschen in Ost- und Westdeutschland zeigen deutlich Muster auf, die wir als spirituell bezeichnen müssen, indem sie die normale Alltagswirklichkeit und den gewohnten Rahmen des Selbst- und Weltverständnisses der Betroffenen überschreiten - transzendieren - und sich ein bis dahin unbekannter Erfahrungsraum öffnet, der das Personale übersteigt und sich mit den Begriffen bzw. Bildern von Gehaltensein und Heimat beschreiben lässt.

Zum Anderen haben wir es mit Spiritualität zu tun - im wörtlichen Sinn - als hier auf der Intensivstation sichtlich Kräfte wirken, die als solche nicht aus der Kunst der Medizin und auch nicht nur aus innerpsychischen oder sozialen Ressourcen resultieren können.

Des Weiteren ist wohl unbestreitbar, dass Menschen ihren Aufenthalt auf der Intensivstation besonders in der Wahrnehmung der Umgebung als bedrohlich, ja lebensbedrohlich erleben.
Todesangst spielt offensichtlich zeitweise eine nicht unbedeutende Rolle im Erleben der Patienten.
Eine Studie der Klinik für Anaesthesiologie unseres Hauses hat eben erst eine Studie zur Lebensqualität von Patienten nach Intensivbehandlung und mindestens vier Komatagen durchgeführt, in der auch Parameter der Posttraumatischen Belastungsstörung (PTSD), also einer psychischen Störung oder Erkrankung nach traumatischen Ereignissen, untersucht wurden. Während in der Gesamtbevölkerung in Deutschland heute von einem Auftreten der PTSD von 4-7% ausgegangen wird, zeigte sich bei diesen über 40 befragten Patienten eine Prävalenz der PTSD von ca. 30% - also eine signifikante Erhöhung.

Was hat dies jedoch mit Spiritualität zu tun, werden Sie fragen.
Im Laufe der Menschheitsgeschichte fanden Menschen angesichts vielfältiger Bedrohungen des Lebens zwei typisch menschliche Überlebens- und Heilungshilfen: Das soziale System und die Eingebundenheit in Familie, Sippe, Stamm und Gesellschaft und die Religion, die im wahrsten und ursprünglichsten Sinn des Wortes einen Rückhalt bot und vom sozialen System vermittelt und in bedrohlichen Situationen aktualisiert wurde.
Das unbedingte und nicht verlierbare Gehaltensein, die Zugehörigkeit und Einbindung in eine die Alltagserfahrung transzendierende Wirklichkeit - wie immer man sie nennt - bildete sich in der erforschbaren Menschheitsgeschichte sehr früh als Antwort auf lebensbedrohende Situationen (Traumata) heraus und erweist sich bis heute in den verschiedenen Kulturen der Welt als stabilisierend und wirksam, als Überlebenshilfe.
Schamanen, Medizinmänner, Priester, Seelsorger sind Symbole, Personifizierungen, Konkretisierungen dieser anderen, größeren Wirklichkeit in einem archetypischen Sinn.
Dieser Überlebensmechanismus ist nicht vom Einzelnen erlernt und existiert jenseits der Kultur, er ist eingeboren (Archtetypus) und besteht bis heute evolutiv unverändert - weil bewährt - ebenso wie die Funktion des limbischen Systems für die Reaktion auf Gefahr und Lebensbedrohung sich seit der Zeit der Reptilien unverändert - weil bewährt - erhalten hat.

Rituale - in die Sozietät eingebunden und von ihr getragen - sind die Ausdrucksformen und Strukturen, in denen sich diese archetypisch vermittelte Wirklichkeit - die Eingebundenheit, der Rückhalt, die Sicherheit - kulturell vermittelt zeigt. Sie aktivieren die Überlebenskräfte des Einzelnen und erleichtern beizeiten den Übergang und den Abschied im Tod des Menschen oder besser: des Körpers - ganz abgesehen von ihrer Bedeutung für die Angehörigen eines betroffenen Menschen.

Die spirituelle Begleitung von Patienten in Grenzbereichen des Lebens - nicht nur auf der Intensivstation - spricht die archetypisch und teils unbewussten Stützungssysteme an. Sie relativiert die Bedrohlichkeit des Erlebten durch Zeugenschaft, Ansehen, Wahrnehmen, Dableiben und vor allem Segen, der ein heilendes Wort in eine unheilvolle Situation mit der Autorität der größeren und durch den Seelsorger repräsentierten Wirklichkeit spricht, beschützend und bewahrend wirkt. Rituale bringen Struktur und damit Halt in haltlose Situationen der existentiellen (Todes-)Angst und ermöglichen es, den für diesen Menschen anstehenden inneren Prozessen zu folgen - sei es zurück zum Leben in unserer bekannten Lebenswelt oder auch hin zum Sterben hinein in eine andere Wirklichkeit.
Und dies gilt nicht nur für Menschen, die in ihrem bisherigen Leben als religiös gegolten haben.

Spiritualität im Sinne des Geschehens und Erlebens in existentiellen und vital bedeutsamen Situationen wie auf der Intensivstation ist also ursprünglicher zu sehen als die kulturell vermittelte und durch die verfassten Religionen und Konfessionen vertretene Ausformung derselben. Und dennoch ist jene nicht unabhängig von diesen bewährten Wegen, den Rück-halt - Religio - in einer größeren und bergenden - lebendigen - Wirklichkeit  den Menschen erfahrbar zu machen.